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< Arzt erwischt den falschen Fuß
11.09.2013 00:00 Alter: 11 yrs
Von: Ekkehard Müller-Jentsch

Auf dem Rücken der Patientin

69-Jährige verklagt Arzt nach missglückter Operation


Der Patient als Versuchskaninchen, mit dem man auch noch Geld verdienen kann? Dieser Gedanke steht in einem Prozess um die missglückte Rückenoperation an einer 69-jähirgen Frau im Raum. Mario Brock, bis 2006 Direktor der Neurochirurgischen Klinik der Charité Berlin, hat als gerichtlich bestellter Gutachter mit harten Worten den Eingriff eines Münchner Kollegen als groben Kunstfehler abgestempelt. So deutlich wie der weltweit hoch angesehene, aber längst emeritierte Professor bringen es Sachverständige in Medizinprozessen nur selten auf den Punkt. Die Frau litt vor dem Eingriff 2009 bereits seit 30 Jahren unter heftigen Rückenbeschwerden. Osteoporose hatte der Neurochirurg an einem privaten Münchner Praxiszentrum diagnostiziert. Er schlug der Frau deshalb vor, minimalinvasiv von einer Seite her Abstandhalter in den geschädigten vorderen Wirbelbereich einzusetzen. Damit sollte die Wirbelsäule aufgerichtet und stabilisiert werden. Was als schonender Eingriff gedacht war, mündete wegen späterer Komplikationen in mehrere Notoperationen, bei denen die Ärzte durch den Bauchraum an der Wirbelsäule arbeiten mussten - seither leidet die Frau unter massiven Spätfolgen. Deshalb klagt sie am Landgericht München I nun auf wenigstens 100 000 Euro Schmerzensgeld und Schadensersatz. Laut Gutachter hätte die OP gar nicht angesetzt werden dürfen Professor Brock machte nun in der Verhandlung der 9. Kammer klar, dass zwar der Eingriff kunstgerecht ausgeführt worden sei - selbst die folgenschweren Komplikationen lassen nicht auf einen handwerklichen Fehler schließen. Das ärztliche Versagen sieht er vielmehr darin, dass überhaupt operiert worden war. Es habe keine präzise Indikation für diesen Eingriff gegeben, erklärte der Professor. Bei einer so stark degenerierten Wirbelsäule sei das Aufrichten von ein oder zwei Wirbeln keine Lösung. Es sei nicht einmal eindeutig gewesen, dass die Schmerzen überhaupt von dieser Stelle gekommen seien. "Wir Ärzte operieren keine Röntgenbilder, sondern Patienten", wetterte der Gutachter. Wenn ein Arzt nur die Hoffnung habe, etwas verbessern zu können, dürfe der Eingriff nicht gemacht werden, erklärte Brock. Natürlich könne sich ein Arzt immer irren oder es könnten Fehler bei der OP passieren - aber niemals dürfe eine OP ein Versuch sein. Die von dem Münchner Arzt angewendete Methode habe zwar ihre Berechtigung, aber nicht in diesem Fall:"Das ist kein C & A-Verfahren, sondern eine individuell maßgeschneiderte Entscheidung, Abstandshalter einzusetzen."
Die Frage des Gerichts, an wie vielen Kliniken damals dieser Eingriff so gemacht worden wäre, konnte der Gutachter nicht beantworten. Er gab zu bedenken, dass ökonomische Gesichtspunkte in den letzten 20 Jahren vieles verändert haben: "Selbst an Unikliniken wäre ohne ökonomischen Druck so mancher Eingriff nicht gemacht worden." Der Gutachter erklärte, dass bei einem so problematischen Eingriff die Patientin noch nachdrücklicher auf Risiken hätte hingewiesen werden müssen. Nur dann könne ein Patient entscheiden, ob er sich auf dieses "Abenteuer" einlassen wolle. 2009 sei diese OP noch eine "Außenseitermethode" gewesen.
Als der Sachverständige den Saal verlassen hatte, warf Ludwig Harkotte, Anwalt des beklagten Arztes, die Frage auf, ob der mittlerweile 74-jährige Gutachter bereits zu weit von der Praxis entfernt sei. Acht Jahre sei er nicht mehr tätig, dieser Zeitraum sei in der Neurochirurgie "ein Quantensprung" - und Brock habe den Fall außerdem zu einer Glaubensfrage gemacht. Einen ersten Vergleichsvorschlag des Gerichts, den Prozess mit einer freiwilligen Zahlung um die 25 000 Euro beizulegen, lehnte sowohl er als auch Klägeranwalt Burkhard Schulze zunächst ab. Ende Oktober will das Gericht entscheiden, wie es weitergeht. Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 11.09.2013