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< Arzt erwischt den falschen Fuß
02.05.2014 00:00 Alter: 10 yrs
Von: Der Neue Tag/Christine Ascherl

"Es ist nichts mehr wie zuvor"

Waldsassener Bluttat: Ärzte schildern zum Prozessauftakt die Verletzungen des 13-jährigen Opfers


Weiden/Waldsassen. Der Notarzt der am 8. Okotober eine Stunde vor Mitternacht in die alte Bayreuther-Fabrikhalle stolperte, immer den türkischen Angehörigen hinterher, hielt das Mädchen zunächst für tot. Es lag im Dunkeln blutüberströmt auf einer alten Palette. Die Körpertemperatur war stark abgesunken, der Puls nicht mehr messbar. Mit seinen Sanitätern packte er Aleyna in ein Rettungstuch und trug sie durch die Finsternis zum Sanka. Ihr Gesicht war zermalmt mit einem Schotterstein vom Bahngleis. Das "Was" ist hinlänglich bekannt: Der Achtklässler Tino G. (14) hat am Mittwoch zum Prozessauftakt gestanden, seine Mitschülerin (13) mit einem Stein ins Gesicht geschlagen zu haben. Wieder und wieder. Mindestens acht Mal. Er bestreitet einen Tötungsvorsatz. Oberstaatsanwalt Rainer Lehner klagt ihn des versuchten Mordes an. Das "Warum" bleibt ein Rätsel. Die beiden sind Klassenkameraden an der Hauptschule Waldsassen. Seine Familie ist ein halbes Jahr davor aus Konnersreuth nach Waldsassen gezogen: Mutter, Stiefvater, einige Geschwister, keine einfachen Verhältnisse. Tino G. ist polizeibekannt. Das Jugendamt beschäftigt sich seit Jahren mit seinen extremen Aggressionen auf dem Schulweg, in der Klasse, in der Familie. Es gibt ständige Interventionen, zuletzt 2013. Sein Kinderarzt Dr. Bernd Seybold bestätigt die Auffälligkeiten und berichtet von einer medizinisch nachgewiesenen Aufmerksamkeitsstörung ADHS. An dieses "schwarze Schaf" gerät die junge Türkin. Aleyna wird als friedfertig und gutmütig geschildert. Auf Bildern sieht sie aus wie ein Kind. Der Angeklagte übrigens auch. Er ist sogar noch kleiner als seine Mitschülerin, ein "Grischperl" von nicht mal 1,60. Sie 13, er 14. Von einem Pärchen kann man nicht sprechen, geschweige denn von einer "Beziehung". Per Whatsapp verabreden sie sich am Tag zu einem ersten "Date". Sie tauschen per Handy gegenseitige Sympathiebeurkundungen aus. Eine allerletzte, plötzlich bedrohliche Nachricht liest Aleyna nicht mehr. Erster Schlag nach Kuss Sie spazieren am alten Bahnhof vorbei zur verlassenen Fabrik. Es kommt zur Umarmung, einem kurzen Kuss. Dann dreht Aleyna den Kopf ein wenig nach links, um sich am Hals zu kratzen - und spürt einen Schlag auf den Hinterkopf. Soweit ihre Erinnerung, die am Mittwoch per Videovernehmung in den Gerichtssaal übertragen wird. Eine Psychologin der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat vor einer Retraumatisierung gewarnt. Die Schülerin muss ihrem Peiniger daher nicht gegenüber treten. Sie sagt im Nebenraum aus, hält tapfer 60 Minuten durch. Ihr zur Seite sitzen die Psychologin und Anwalt Dr. Burkhard Schulze, der die Familie als Nebenklagevertreter durch den Prozess begleitet. Auf einem Fernseher sehen sie Vorsitzenden Richter Walter Leupold, der die Fragen stellt. Er bildet mit den Richtern Dr. Marco Heß, Markus Fillinger und zwei Schöffen die 1. Jugendkammer. Für Aleyna ist unerklärlich, was die Tat auslöste. Es gab keinen Streit, keine Forderungen, keinen Wutausbruch. Nach "vier, fünf Schlägen" verlor sie das Bewusstsein. Gottlob. Sie kann sich an die fünf Stunden, die sie allein in der Fabrik lag, nicht erinnern. Beide Augenhöhlen gebrochen, Nasenbeintrümmerbruch, Schädelbasisbruch, beide Kiefer gebrochen, Jochbeinbruch. Dazu Schnittwunden. Laut Rechtsmediziner Prof. Dr. Peter Betz können ihr diese Verletzungen nur am Boden liegend zugefügt worden sein. Aleyna kam erst in der Klinik wieder zu sich. Auch Tino G. will nicht wissen, warum es zu dieser Gewaltexplosion kam. Die Richter befragen ihn eine Stunde lang: Gab es Streit? Nein. Wolltest du mehr von ihr? Nein. Warum hast du zugeschlagen? Weiß ich nicht. Er wisse nicht, was in ihn gefahren sei. Sie habe gewimmert, nach dem letzten Schlag nicht mehr. Der Stein sieht aus wie ein Faustkeil aus dem Museum. Er will ihn 50 Meter zuvor vom Gleisbett aufgeklaubt und die ganze Zeit in der Hand gehalten haben. Aleyna bemerkte das nicht. Elf Zeugen sind am ersten Prozesstag geladen, eine Art "Ärztetag", derart viele Doktortitel versammeln sich. Die Ärzte aus Weiden und der Uniklinik Regensburg werden gehört. Sie operierten Aleyna am 9. Oktober sechs Stunden lang. "Ihr ganzes Gesicht ist voll Metall, alles ist verplattet und verschraubt", sagt Schulze. Neun Eingriffe waren nötig. Die plastischen Chirurgen der Uniklinik Regensburg haben das Mädchen soweit wieder hergestellt, dass die Folgen äußerlich kaum mehr erkennbar sind. Die seelische Bewältigung liege dagegen in weiter Ferne. "Es ist nichts mehr wie zuvor." Eine Psychologin bestätigt ein schweres posttraumatisches Belastungssyndrom. Lebensrettende Suchaktion Noch einmal spielen Whatsapp und Facebook eine Rolle. Am Abend rollt eine Suchaktion an, nachdem die Eltern ihre Tochter als vermisst gemeldet haben. Die türkische Gemeinde stürmt los, halb Waldsassen ist auf den Beinen. Ein Angehöriger findet die Verletzte. Auch hier gilt: gottlob. Laut Rechtsmediziner Prof. Dr. Betz schwebte sie durch den massiven Blutverlust in akuter Lebensgefahr. Ein Tatortrekonstrukteur des Landeskriminalamtes führt virtuell zum Tatort. Auf einer Leinwand zeigt er dreidimensional das alte Fabrikgelände und kann durch die verlassene Halle und ihre Abteile "gehen". Zur Lage des Tatorts gibt es ein Problem: Er liegt laut Aleyna 150 Meter vom Fundort entfernt, dem Ort, an dem auch sämtliche Tatspuren gesichert wurden. Ein Psychiater hält eine Amnesie, ausgelöst durch die Verletzungen, für möglich. Der Angeklagte "feiert" am heutigen Freitag 15. Geburtstag in der JVA Laufen-Lebenau im Berchtesgadener Land. "Er ist froh, dass das Verfahren beginnt und er Klarheit über seine Zukunft bekommt", sagt Verteidiger Rouven Colbatz. "Sechs Monate U-Haft sind für einen 14-jährigen schon hart. Er war das letzte Mal von der Mutter, von den Geschwistern getrennt - und dann noch in einer JVA, die dreieinhalb Stunden weg liegt." Der Jugendknast Laufen-Lebenau könnte länger sein "Zuhause" werden, sollte es tatsächlich zu einer Verurteilung wegen versuchten Mordes kommen. Das Jugendstrafrecht sieht sechs Monate bis zehn Jahre Haft vor. Colbatz will "weg vom Tötungsdelikt" und wertet den ersten Prozesstag als positiv für seinen Mandanten: ohne Mordmotiv kein Mordversuch. "Eine motivlose Tat gibt es nicht", kommentiert sein Kollege Dr. Burkhard Schulze.   Quelle: Der Neue Tag vom 02.05.14; Rubrik: Weiden/Waldsassen